SchneEkstase

Text und Bilder von Joël Hafner

Was für ein Wochenende, was für ein Ritt. An einem Freitagabend im April beschließe ich aus einer Laune heraus, dass ich versuchen will, am Wochenende nach Italien zu fahren. Ziel: so wenig Autobahn und so viel Passstraße wie möglich. Viele Pässe sind natürlich noch gesperrt. Ich lege mir eine Route zurecht. Und tatsächlich; nach 9 Stunden Fahrt und insgesamt etwa 12 Stunden komme ich am Samstag in der Lombardei an. Die Fahrt führt mich über Garmisch zunächst nach Samnaun, wo ich den Tank der Tiger randvoll mache. Schließlich gibt es hier keine Benzinsteuer zu zahlen. Die Reise geht weiter, vorbei am Reschensee zunächst in Richtung Bernina. Der sieht auf der Webcam nämlich richtig spannend aus: frisch vom Schnee befreit! Auf dem Weg dorthin liegt ein echtes Schmankerl: der Engadiner Ofenpass. Schneeflocken auf der Passhöhe läuten rauheres Wetter ein, doch auch bei eisigen -1 Grad auf dem Bernina schwindet der Enthusiasmus kein bisschen. Und das obwohl das Thermometer der Tiger erfahrungsgemäß meist ein bis zwei Grad zu viel anzeigt.

Die Straße nach Italien ist feuchtkalt und ich lasse es ruhig angehen. Doch einmal im Land der Liebe angelangt, sind die Temperaturen plötzlich geradezu sommerlich. Und die Liebe blüht auf. Was die Tiger und ich schon alles gemeinsam erlebt haben, kaum zu glauben. Diese Reise entpuppt sich jetzt schon zu einer weiteren besonderen Geschichte in unserer langen Bekanntschaft. Mein nächstes Ziel ist eine Pizzeria, ich gehe auf die Jagd nach Mozzarella.

Zum Abend hin suche ich mir ein schönes Plätzchen, um mein Zelt aufzuschlagen. Eigentlich will ich eine Wanderhütte nutzen, die ich im Vorfeld gefunden hatte. Doch die Straße dorthin ist von einer Schranke gesperrt. Der Grund für die Sperrung ist nicht ersichtlich, doch mir bleibt nichts anderes übrig, als eine Kehrtwende zu machen. Die Wahl fällt schließlich auf einen abgelegenen Wanderparkplatz. Er ist vollkommen von Schnee bedeckt, doch ein kleiner Unterstand bietet gerade genug Platz für mein Zelt.

Der Sonntag begrüßt mich mit einem wunderschönen Sonnenaufgang. Alpenglow vom feinsten legt sich auf die gegenüberliegende Bergkette. Die Kälte macht es schwer, den warmen Schlafsack zu verlassen, doch ich habe große Pläne für die Rückreise. Den Gardasee habe ich in’s Auge gefasst. Doch dieser liegt, wie ich beim Teekochen schnell herausfinde, hinter einem noch wintergesperrten Pass. Also heißt es, den langen Umweg nach Riva del Garda über den Tonale zu nehmen. Ich muss schnell austrinken.

Die ehrgeizige Fahrt am Sonntag dauert über 11 Stunden – Pausen nicht mitgerechnet. Über 600 km lege ich zurück, und davon die meisten nicht auf Autobahnen. Nach dem Gardasee führt meine Route über den Mendelpass in Richtung Jaufenpass. Doch dieser hat es in sich. Wie sich herausstellt, gibt es im Winter ab 18 Uhr eine Nachtsperre. Wieder einmal habe ich knapp kalkuliert und muss mich ranhalten, um nicht vor verschlossenen Toren zu stehen. Das größte Problem dabei: ich habe keine Ahnung, an welchem Punkt des Passes die Schranke steht.

Mit sieben verbleibenden Minuten auf der Uhr schieße ich an der Schranke des Jaufenpass‘ vorbei. Es ist ein zügiger Ritt, aber nichts das das eingespielte Team von Fahrer und Maschine aus der Ruhe bringen könnte. Der Jaufen ist weiß. Links und rechts der Straße liegt reichlich Schnee, und die Aussicht auf den letzten Metern vor dem Sattel ist kein Vergleich zur Aussicht im Sommer. Hier standen vermutlich noch nicht viele Motorradfahrer zu dieser Jahreszeit. Auch diesem Gedanken wohnt ein gewisser Reiz inne. Ich nehme mir einen Moment, um über die Reise zu reflektieren, und bin glücklich, die womöglich etwas abwegige Entscheidung getroffen zu haben, im Schnee über die Alpen zu fahren. Der mangelnde Komfort dahingestellt ist das Unterfangen eigentlich gar nicht so verkehrt. Die Straßen sind fast durchweg frei, kein Fleckchen Eis bringt mich auf den 1100 km jemals ins Rutschen. Ich würde es wieder tun, da bin ich mir sicher. Aber jetzt wird mir langsam schon wieder kalt. Die Finger kurz am warmen Motor erwärmt, fahre ich gen Österreich.

Trotz der vielleicht etwas verrückten Zahlen (mein Hintern brauchte definitiv eine Erholung), hat diese Reise unglaublich viel Spaß gemacht. Ich hatte das Gefühl, zum ersten Mal im Jahr meinen Rhythmus auf dem Motorrad wiedergefunden zu haben. Auch wir Winterfahrer brauchen nach der kalten Saison ein paar Kilometer, um unsere Fertigkeiten aufzutauen.

Von Temperaturen unter dem Gefrierpunkt auf dem Bernina, dem Jaufen und anderen Pässen bis hin zu fast 25 Grad in der Gardaseeregion, von strahlendem Sonnenschein bis hin zu starkem Regen – der Tiger und ich erlebten in zwei Tagen etwa eine Woche voller Abwechslung. In Anbetracht der kalten Temperaturen in vielen Gegenden war ich überrascht, wie gut die Reifen funktionierten. Ich habe mich nur selten zurückgehalten, und die Fahrt war angenehm sportlich. Bei der ambitionierten Route blieb wenig Zeit, um für Fotos und Videos anzuhalten. Dennoch entstanden einige sehenswerte Aufnahmen, und auch ein kurzer Film zur Reise.

Diese Geschichte stammt aus dem April 2023.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert