Text und Bilder von Joël Hafner
Jetzt bin ich auf einmal allein. Ich beende mein kleines Mittagessen, trinke noch einen Schluck Wasser und bereite mich auf die Weiterfahrt vor. Es ist bereits drei Uhr. Keine vernünftige Zeit sich auf den Weg zu machen, wenn noch 65 Kilometer mit unbekannter Schwierigkeit vor einem liegen. Wir haben bis zu diesem Punkt viel Zeit verloren – oder besser gesagt: Ich habe Zeit verloren, weil ich viel auf die GS gewartet habe. Es ist warm, aber nicht unerträglich. Ich habe genug zu essen und zu trinken dabei. Ich bin zögernd zuversichtlich, aber ich weiß, dass ich mit Überzeugung weiterfahren muss. Ein leicht mulmiges Gefühl macht sich breit. Ausgerechnet am bisher schwierigsten Punkt muss ich plötzlich alles alleine bewältigen. Es wird mir nicht viel Zeit bleiben, anzuhalten und Fotos zu machen – geschweige denn etwas zu filmen.

Die Schönheit der Natur hier draußen genießt man sowieso am besten im Moment. Und obwohl es manchmal etwas holprig ist, kann ich die malerische Umgebung immer noch schätzen. Sie bildet irgendwie einen seltsam passenden Kontrapunkt zu meiner inneren Gefühlslage. Auf der Route sind auch ein paar Einheimische unterwegs, und hier und da weist ein kleines Haus darauf hin, dass dieses Tal noch nicht völlig verlassen ist. Ich treffe auf zwei ortsfremde Motorradfahrer, die dabei sind einen Platten zu reparieren. Obwohl ich unter Zeitdruck stehe, biete ich meine Hilfe an und wir unterhalten uns kurz über Motorräder und albanische Pistenverhältnisse. Ich leihe kurz ein Werkzeug aus, das ein Problem löst, und verkünde dann etwas widerwillig, dass ich weiterfahren muss. So weit, so gut. Aber ich weiß jetzt, dass das, was vor mir liegt, für den größten Teil des Weges nicht einfacher werden wird.
Der Boden ist felsig, mal mehr, mal weniger mit losem Schotter bedeckt. Doch das Motorrad findet sich unter meiner meist laienhaften Führung gut zurecht. Ich bin froh, dass die Bedingungen ausreichend trocken sind. Es ist fraglich, ob ich es unter anderen Voraussetzungen in den wenigen Stunden Sonnenlicht über den Berg schaffen könnte. Einige schattige Stellen überraschen mich mit Pfützen, von denen einige besorgniserregend tief sind – eine Erkenntnis, die ich erst auf halbem Weg durch solch eine erhalte, als mein Vorderrad fast völlig verschwindet. Der Schwung ist jedoch auf meiner Seite, und auch das Glück, denn es bleibt die tiefste Pfütze, die ich an diesem Nachmittag bewältigen muss. Abgesehen von ein paar Dutzend Ziegen, die sich nicht mit mir anfreunden wollen, und verschwinden, sobald ich um die Ecke biege, bin ich jetzt ganz allein hier draußen. Auf einem Abschnitt des Weges, der an der Schattenseite eines Berges entlangführt, wird mir der Blick in ein Tal gewährt, das von der goldenen Spätnachmittagssonne durchflutet wird. Einige rudimentäre Brücken, die ich überquere, sind der einzige Hinweis darauf, dass es sich hier noch um eine Straße handelt, die vermutlich irgendwo hinführt. Bald darauf beginne ich wieder den Hang zu erklimmen, und die großen losen Steine sind wieder da. Inzwischen habe ich jedoch den mentalen Schwung auf meiner Seite. Obwohl die Landschaft manchmal wirklich überwältigend ist, wenn ich aus einem bewaldeten Abschnitt wieder ins Licht trete, beschränke ich mich darauf, den Moment zu genießen.
Mitten im Nirgendwo komme ich plötzlich an einem Café vorbei. Leider habe ich zu wenig Zeit, um anzuhalten. Es sieht nicht besonders einladend aus, aber auf den Stühlen im Außenbereich verweilen tatsächlich einige Gäste. An jedem anderen Tag hätte ich allein der Geschichte wegen auf einen Kaffee angehalten. Nach ein paar weiteren Kehren erreiche ich eine Art Kamm, welcher mit einem Kreuz markiert ist. Der Weg ist in jenes Sonnenlicht getaucht, das meist ein bald vergehendes Tageslicht verkündet. Und so beginne ich auf der anderen Seite abzusteigen und frage mich, wie lange es noch dauern wird, bis ich eine ausgebaute Straße erreiche. Während des Abstiegs mache ich hier und da ein paar kleine Fahrfehler. Meine Ausdauer schwindet. Kurz vor dem absoluten Höhepunkt des Lichtspektakels der späten Nachmittagssonne gönne ich mir eine Pause und mache ein Foto, um den Moment festzuhalten. Es ist noch nicht wirklich Sonnenuntergang, aber die Sonne wird schon bald hinter dem Kamm der umliegenden Berge verschwinden. Meine GoPro hat keine Akkuladung mehr, und ich verfluche leise meine Vergesslichkeit, sie nicht überwacht zu haben.

Kurz nachdem die Sonne hinter dem höchsten Kamm verschwunden ist, entdecke ich etwas, das auf die Nähe einer Zivilisation hindeutet: Holzfäller-Lkws. Ich überhole ein paar von ihnen, und auch einige Autos. Es ist unglaublich, dass diese Lastwagen diese Straßen befahren können, und das vermutlich sogar täglich. Das Geschehen ähnelt den Aufnahmen, die man von der berüchtigten Todesstraße Boliviens kennt – allerdings mit nicht ganz so dramatischen Gefällen. Etwa auf halber Strecke, als ich darauf warte, einen weiteren Holztransporter zu überholen, wird dieser langsamer und bleibt vor mir stehen. Ich will ihn überholen, doch der Fahrer gibt mir ein Zeichen zum Anhalten. Ich gehorche vorsichtig, da ich nicht abschätzen kann, was mich erwartet. Er fängt an, Albanisch zu sprechen, so glaube ich. Ich habe nicht die geringste Ahnung, was er von mir will. Er deutet auf das Motorrad, auf den Soziussitz. Als er pantomimisch sein Bein über den Sitz schwingt, vermute ich, dass er auf meinem Motorrad ins Tal mitgenommen werden will – obwohl er einen Beifahrer im Lkw hat. Da ich mir immer noch nicht ganz sicher bin, was der Mann will, lehne ich vorsichtshalber ab. An einem anderen Tag, auf einer anderen Straße wäre ich vielleicht auf seine verrückte Idee eingegangen. Aber nicht auf dem kleinen Bruder der bolivianischen Todesstraße, nicht mit der Müdigkeit eines ganzen Enduro-Tages in meinen Knochen und nicht mit meinem voll beladenen Motorrad. Als ich wieder losfahre bin ich fast enttäuscht, dass ich diesen Teil der Geschichte nicht erzählen kann.

Viele Kilometer und Stunden später als erwartet erreiche ich endlich den Asphalt. Nennt mich dramatisch, so viel ihr wollt, aber das ist eine solche Erleichterung, dass ich buchstäblich auf die Knie falle und mein Motorrad anhimmle. Die Sonne ist längst untergegangen, und alles, was mir jetzt noch den Weg nach Shkoder erhellt, sind die letzten Strahlen, die hinter den Bergen hervorkommen. Die multitalentierte Tiger verwandelt sich wieder in einen Straßenräuber, und wir machen uns auf den Weg aus dem düsteren Tal. Die Dunkelheit birgt jedoch ihre Gefahren. Erdrutsche auf der Straße werden gerade noch rechtzeitig im Scheinwerferlicht sichtbar, und die Fahrt erfordert abermals meine volle Aufmerksamkeit. Als ich schließlich den Stadtrand erreiche, orientiere ich mich noch einmal auf der Karte, um meine Unterkunft zu finden. Während ich mein Gepäck in mein Zimmer für die Nacht trage, merke ich wie endlich die Last der Anspannung von mir abfällt. Dieser Tag hatte es wahrlich in sich.
Diese Geschichte stammt aus dem September 2021. Danke fürs Mitlesen! Über eine kleine finanzielle Unterstützung würde ich mir sehr freuen 🙂
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